Von Celine Lika
Der Blick schweift über moderne Häuserfassaden, von einem Spielplatz ertönen die Rufe spielender Kinder und aus einem kleinen Café duftet es nach Kuchen und Cappuccino. Wer heute durch das Tübinger Stadtviertel Alte Weberei spaziert, kann sich kaum vorstellen, dass hier früher eine riesige Textilweberei stand.
Eine erfolgreiche Vergangenheit
Kommt man in die Alte Weberei, fallen sofort die mit vielen Fenstern ausgestatteten Neubauten auf. Wo nun Wohnungen, Büros und Geschäfte sind, befand sich von 1920 bis 2002 die Württembergische Frottierweberei Lustnau. Das Textilunternehmen war vor allem für seine Marke Egeria bekannt – Menschen auf der ganzen Welt trockneten sich mit hochwertigen Handtüchern made in Lustnau ab. Zu ihren Hochzeiten war die Weberei wichtigster industrieller Arbeitgeber in ganz Tübingen.
Welche Geschichte steckt hinter diesem Erfolg? Im Jahr 1920 gründeten Hermann Schweitzer und Konrad Hornschuch die Württembergische Frottierweberei Lustnau GmbH. Handtücher, Bademäntel, Waschlappen – zu Beginn stellten nur mehrere Dutzend Angestellte die Frottierwaren her. Doch diese wurden in den 20er Jahren schnell immer beliebter; besonders viele Luxushotels verwendeten Egeria-Produkte. Somit arbeiteten Anfang der 1930er bereits über 500 Angestellte im Unternehmen. Sogar Wohnheime für die Angestellten wurden auf dem Firmengelände erbaut. Um auch für weibliche Mitarbeitende
attraktiver zu sein, errichtete die Textilweberei einen Werkskindergarten – eine Seltenheit zur damaligen Zeit.
Ab und auf und ab
Dann kam der Zweite Weltkrieg. In diesen Jahren stellte die Textilweberei keine Frottierwaren mehr her; stattdessen wurde die Fabrik zur Rüstungsproduktion für die deutsche Armee umfunktioniert. Nach diesem Einbruch begann jedoch erst der eigentliche Boom der Lustnauer Weberei.
Am Rand des Neubauviertels Alte Weberei fließt der Neckar ruhig dahin. Wer dort am Ufer entlangspaziert, kommt an einer direkt am Wasser gelegenen Bocciabahn vorbei. Diese ist ein Zeugnis aus der Blütezeit der Weberei. Wie das? In den 50er und 60er Jahren stiegen Nachfrage und Produktion so stark an, dass Arbeiter*innen aus der Umgebung nicht ausreichten. So kamen viele der fast 1500 Angestellten aus dem Ausland – besonders aus Italien –, um in der sogenannten Egeria-Fabrik Frottierwaren herzustellen. Italienische „Egerianer“ waren es auch, die in den 1960ern die Bocciabahn errichteten.
Seit den 1980er Jahren stand es jedoch immer schlechter um die Lustnauer Textilweberei, bis sie in Konkurs ging und 2002 endgültig schließen musste. Bei einem Rundgang durch die Alte Weberei stößt man jedoch auf ein Egeria-Outlet, das Handtücher, Bademäntel und Co. anbietet. Wie kann das sein, wenn es die Firma schon lange nicht mehr gibt? Ein türkisches Unternehmen hat den Markennamen gekauft und vertreibt so noch immer Egeria-Produkte.
Das Textilviertel bekommt einen neuen Look
Was tun mit den brachliegenden Hallen? Etwas schaffen, was Tübingen immer nötig hat: Wohnraum. So kaufte die Stadt das Gelände und riss 2010 die meisten Firmengebäude ab. Sechs Jahre später war das neue Stadtviertel fertig, in dem heute ungefähr 700 Menschen wohnen. Unterwegs in der Alten Weberei begegnen einem vor allem viele Familien mit Kindern.
Ein Spaziergang führt unweigerlich über den zentralen Platz des Viertels. Auf dem Egeriaplatz steht noch heute die langgestreckte Firmenhaupthalle mit ihrem imposanten Turm – das Markenzeichen der ehemaligen Textilfabrik. Statt Bleicherei, Spulerei und Spinnerei befinden sich nun allerdings eine Trattoria sowie Büro- und Wohnräume darin. Dreht man aber eine Runde um die ehemalige Firmenhalle, sind an der hinteren Hauswand noch in ursprünglichem Zustand belassene Tore mit Aufschriften wie „Spinnerei 2“ zu entdecken.
Rund um den Egeriaplatz liegen mehrere Höfe, in denen sich nicht nur Wohnungen befinden. So geht es vorbei an einem Café, Arztpraxen und einem Kinder-Secondhandshop. Hier wird deutlich, dass damals in viele der Neubauten auch verpflichtend Gewerbe einziehen sollten, um Arbeitsplätze zu schaffen. Wer sich so im lebendigen Viertel Alte Weberei umschaut, wundert sich nicht, dass das Bauprojekt den Flächenrecyclingpreis Baden-Württemberg verliehen bekam.
Noch nicht genug gelaufen? Frischluftliebhaber*innen können den Spaziergang entlang des nahe gelegenen Neckars fortführen und so die geschichtsträchtige Alte Weberei hinter sich zurücklassen.
Ihr wollt noch mehr über die Vergangenheit der Alten Weberei erfahren? Dann schaut doch bei TÜpedia vorbei oder lest die Artikelreihe im Schwäbischen Tagblatt. Lust auf eine Zeitreise? Dann seht euch dieses Kunstprojekt zur Alten Weberei an.
Fotos: Celine Lika