Faire Beschaffung in der Universitätsstadt Tübingen: Jannika Franke im Interview

Foto: Alexander Gonschior

Jasmin Schmid

Beim Gedanken an die faire Beschaffung von Bund, Ländern und Kommunen befand sich in meinem Kopf lange Zeit lediglich eines: eine große Menge riesiger Fragezeichen. Dass das heute anders aussieht, habe ich Jannika Franke zu verdanken, die seit Mai 2020 Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik in der Universitätsstadt Tübingen ist und mir für ein Interview zur Verfügung stand. Neben einem grundlegenden Einblick in die faire öffentliche Beschaffung gab dieses auch Aufschluss über das Thema, dem sich dieser Artikel widmen soll: deren Umsetzung in Tübingen. Um jedoch zunächst den Umfang öffentlicher Beschaffung im Vergleich zu privatem Konsum zu veranschaulichen, habe ich Folgendes für euch recherchiert:

Bund, Länder und Kommunen führen laut Aussage des Beschaffungsamts des Bundesministeriums des Innern (BeschA) „für ihre Bereiche jeweils eigenständig Beschaffungen von Waren und Dienstleistungen durch“, was sich darauf zurückführen lasse, dass „[e]iner gemeinsamen Beschaffung über die Verwaltungsebenen hinaus […] vergaberechtliche Grenzen gesetzt“ seien. Da ich im Zuge der Veranschaulichung der Dimension öffentlicher Beschaffung näher auf die Beschaffung von Kleidung eingehen werde, habe ich mich auch hierzu beim BeschA erkundigt: Dieses beschafft

„Kleidung für alle Bedarfsträger im sogenannten Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, u.a. für die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt oder das Technische Hilfswerk. Hier wird das ganze Spektrum an Einsatz-, Arbeits- und Ausbildungskleidung beschafft, vom Uniformhemd der Bundespolizei über die Einsatzjacke des THW bis hin zu Diensthosen für das Bundeskriminalamt.“

Die Beschaffung der Kommune Tübingen bezieht sich laut Jannika Franke dagegen unter anderem auf Schulen und Kitas, den Baubereich, die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die Kommunalen Servicebetriebe Tübingen (KST), deren rund 170 Mitarbeitende gemäß der Website der Universitätsstadt in den Bereichen Verwaltung, Infrastruktur, Stadtentwässerung, Fuhrpark mit Kfz-Werkstatt sowie städtische Friedhöfe tätig sind.

„Die Universitätsstadt Tübingen beschafft beispielsweise Schulverpflegung, Büromaterialien, Steine für den Straßenbau sowie Dienstkleidung für all ihre Bereiche“,

so die Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik. Da ich auf meiner Suche nach einer Mengenangabe von öffentlich und privat beschaffter Kleidung nicht fündig wurde, habe ich mich an den hierfür aufgebrachten Ausgaben der einzelnen öffentlichen Bereiche bzw. privaten Haushalte orientiert, um euch die Dimension öffentlicher Beschaffung im Vergleich zu privatem Konsum aufzuzeigen.

Die versteckte Marktmacht von Kommunen

Addiert man die Ausgaben für Dienst- und Schutzkleidung, die sich für das Jahr 2017 im Haushaltsplan der Universitätsstadt Tübingen (2019) finden lassen, so ergeben sich für die dort aufgeführten Bereiche Kosten in Gesamthöhe von rund 97.000€. Zu diesen Ausgaben sind außerdem die der einzelnen Bereiche der KST, die dem Jahresabschluss der KST (2017) entnommen werden können, für dasselbe Jahr hinzuzurechnen, sodass sich der Umfang der öffentlichen Beschaffung textiler Produkte in der Universitätsstadt Tübingen im Jahr 2017 auf insgesamt 143.200€ belief. Private Haushalte gaben hingegen gemäß den auf Statista aufrufbaren Angaben im selben Jahr durchschnittlich 1.032€ für Bekleidung (exklusive Schuhe) aus. Rechnet man mit der aktuellsten Angabe, die sich bezüglich der Anzahl von Haushalten in Tübingen im statistischen Bericht der Stadtverwaltung (2016) finden lässt und sich auf das Jahr 2015 bezieht, so leben etwa 87.500 Tübinger*innen in insgesamt rund 60.300 Haushalten. Daraus lässt sich ableiten, dass die Universitätsstadt Tübingen jährlich textile Produkte für fast 435-mal weniger Geld beschafft als die Tübinger Haushalte.

Klingt wenig? Nicht, wenn man berücksichtigt, dass auch Bund und Länder unter anderem textile Produkte beschaffen und, wie auch Kommunen, Gelder für Waren aufwenden, die in privaten Haushalten nicht unbedingt auf der Einkaufsliste stehen und oftmals sehr kostspielig sind. Außerdem: Mit einer deutlichen Mehrheit von circa 72 Prozent handelt es sich bei den meisten Haushalten in der Universitätsstadt Tübingen lediglich um Einpersonenhaushalte, womit die Ausgaben für Bekleidung in den dortigen Privathaushalten wohl den monatlichen Durchschnittswert von 86€ stark unterschreiten dürften.

Die besondere Verpflichtung als Fairtrade-Stadt

Foto: Jannika Franke

Darauf, dass Kommunen als öffentliche Einkäufer über eine bedeutende Marktmacht verfügen und zugleich eine Vorbildfunktion erfüllen, kommt auch die Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik der Universitätsstadt Tübingen in ihrem Interview zu sprechen. Sie berichtet, dass Kommunen dazu angehalten seien, Produkte zu beschaffen, die unter Einhaltung grundlegender Sozialstandards hergestellt wurden, und betont: „Als Fairtrade-Stadt ist Tübingen dem Thema in besonderem Maße verpflichtet.“ Daher gelte es in dieser Kommune grundsätzlich, ausschließlich Waren zu beschaffen, die unter Einhaltung der durch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) formulierten Kernarbeitsnormen hergestellt wurden. „Bei Produkten, die laut Gemeinderatsbeschluss als gefährdet gelten, ist ein Siegel oder Zertifikat als Nachweis erforderlich. Produkte aus Asien, Afrika oder Lateinamerika sollen aus dem Fairen Handel beschafft werden“, so Jannika Franke, die im Interview auch von ihrer Tätigkeit berichtet:

„Mit mir als Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik wurde in der Stadtverwaltung eine Personalstelle geschaffen, die das Thema faire Beschaffung/Fairer Handel weiter voranbringen soll. Das war sicherlich ein erster wichtiger Schritt, um das Thema konsequent angehen zu können. Im nächsten Schritt haben wir drei Ziele festgelegt, die wir innerhalb der Projektdauer von zwei Jahren erreichen wollen: Strukturen und Voraussetzungen in der Verwaltung zur Implementierung fairer Beschaffung schaffen, Bildungsmaßnahmen in Schulen und Kitas zum Thema Fairer Handel/faire Beschaffung durchführen und die Sichtbarkeit des kommunalen Engagements im Bereich Fairer Handel/faire Beschaffung erhöhen.“

Das Thema auf unterschiedlichen Ebenen anzugehen, erachtet Jannika dabei als wichtige Voraussetzung, um „an Stellschrauben innerhalb der Verwaltung sowie im Bildungsbereich und über Öffentlichkeitsarbeit drehen“ zu können.

Dezentralität, Uneinheitlichkeit und die Coronapandemie

Dass die Beschaffung in Tübingen jedoch sehr dezentral gesteuert sei und daher ein großer Personenkreis erreicht werden müsse, stelle in Bezug auf die Umsetzung fairer öffentlicher Beschaffung in dieser Kommune jedoch eine Herausforderung dar. „Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff ‚fair‘ nicht gesetzlich geschützt ist und es kein einheitliches Siegel gibt, weshalb kein Patentrezept für alle Produkte und Bereiche existiert“, berichtet Jannika Franke. Darüber hinaus sei die Coronapandemie auch an der fairen Beschaffung in der Universitätsstadt Tübingen nicht spurlos vorbeigezogen:

„Wir konnten viele für 2020 vorgesehene Maßnahmen nicht umsetzen, insbesondere die Durchführung von Bildungsmaßnahmen und Veranstaltungen.“

Foto: Jannika Franke
Noch in diesem Jahr sollen faire Fußbälle an Tübinger Schulen übergeben werden.

Aktuell sei jedoch eine Informationsveranstaltung zum Thema „Faire Beschaffung von Dienstkleidung“ geplant, wozu Jannika auch Kontakt zum FAIRstrickt-Bündnis aufgenommen hat: „Diese Maßnahme soll dabei helfen, Beschaffer*innen in der Stadtverwaltung konkrete Informationen an die Hand zu geben, wo sie fair gehandelte Produkte finden und an welchen Gütezeichen sie sich orientieren können.“ Außerdem sei für dieses Jahr eine Bildungsmaßnahme zum Thema „Faire Fußbälle“ in Schulen vorgesehen.

Ein und dasselbe Ziel – die Kooperation mit dem FAIRstrickt-Bündnis

Laut Jannika komme dem Austausch mit der FAIRstrickt bei ihrer Arbeit eine zentrale Bedeutung zu, „weil das Bündnis bereits ein stabiles Netzwerk aufgebaut hat und sich sehr aktiv für die Einhaltung von Menschenrechten entlang globaler Lieferketten einsetzt.“ Dies habe sich beispielsweise beim durch das FAIRstrickt-Bündnis organisierten Mach(t)Tag gezeigt, bei welchem die Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik weitere Akteur*innen kennenlernen und neuen thematischen Input mitnehmen konnte.

Wir verfolgen dasselbe Ziel und ich denke, wir können uns in vielerlei Hinsicht unterstützen und Synergien erzeugen.“

Zum Schluss des Interviews habe ich Jannika noch etwas ganz Persönliches gefragt. Auf meine Frage, ob es bestimmte Ökonom*innen oder Grundsätze gebe, die sie inspirieren bzw. die sie bei ihrer Arbeit verfolgt, erhielt ich eine ebenso persönliche Antwort:

„Vor nicht allzu langer Zeit habe ich das Buch ‚Doughnut Economics‘ der britischen Ökonomin Kate Raworth gelesen, was mich sehr inspiriert hat. Raworth entwirft ein Wirtschaftsmodell, das einem Donut gleicht: Der äußere Kreis sind die planetaren Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, der innere Kreis ist das soziale Fundament der Gesellschaft. Raworth stellt in ihrem Buch eine Reihe von Strategien und Ideen für eine globale Ökonomie vor, die innerhalb dieser Grenzen gesteuert wird und nicht auf Kosten der Gesellschaft oder des Planeten gehen. Wenn wir bereit sind, unsere wirtschaftlichen Strukturen zu überdenken und die Ziele anders zu setzen, können wir ganz viel erreichen.“