Wie aus alten Stoffen Neues erschaffen wird – eine Tübinger Erfolgsgeschichte

Die Arbeit an der Nähmaschine

 

Jede Woche treffen sich in Tübingens Zentrum Menschen mit Fluchterfahrungen, um aus recycelten Stoffen neue Produkte herzustellen. Das Ziel dahinter: den Näher:innen den Einstieg in die Arbeitswelt zu erleichtern. Ich habe mich mit den Mitbegründern der Initiative der Grüne Faden getroffen. Daraus entstanden ist ein Interview über Nachhaltigkeit, Upcycling und Erfolg durch learning by doing.

Von Carina Buck

Ich stehe vor dem Schaufenster und die schwarzen Stiefel aus Leder fallen mir direkt ins Auge. Die wollte ich schon immer! Der Gedanke lässt mich nicht los, dass ich tatsächlich die Stiefel gefunden habe, die ich schon so lange gesucht habe. Ich betrete das Geschäft und möchte die Stiefel anprobieren. Sie passen einfach perfekt! Ich bin hin und weg und möchte sie direkt kaufen, doch… ich zögere…

Die Themen Nachhaltigkeit und Menschenrechte sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie stehen mit uns morgens auf und begleiten uns, wenn wir uns für den Tag anziehen. Sie sind in unserem Kopf, wenn wir einen Kaffee kaufen und können Konflikte in uns auslösen, wenn wir diese langersehnten Stiefel im Schaufenster entdecken. Wurden die Stiefel ökologisch und unter fairen Bedingen produziert? Wo wurde das Produkt produziert? Sind die Transportwege transparent einzusehen? Viele Fragen, auf die man auf die Schnelle nicht immer eine Antwort bekommt, und die einen in ein moralisches Dilemma bringen können.

zwei modische Scrunchies aus upgecycelten Stoffen

Es geht jedoch auch anders. In Tübingen schlummern so manche Projekte die nachhaltig, fair und ökologisch sind. Ein Erfolgsmodell ist hier der Grüne Faden. Entstanden im Oktober 2018, haben sich acht motivierte Student:innen zusammengefunden und eine Nähwerkstatt mit Perspektive auf die Beine gestellt. Wöchentlich treffen sich geflüchtete und/oder vertriebene Menschen donnerstags von 16 – 18 Uhr in der Nähwerkstatt im Asylzentrum in Tübingen, die aus upgecycelten Materialien Produkte wie Kissenbezüge, Jutebeutel, Haargummis, Kosmetiktaschen, Brotbeutel, Mützen, Wärmflaschenbezüge und vieles mehr herstellen.  Das Ziel hinter der Initiative der Grüne Faden ist neben dem kulturellen und sozialen Austausch den Näher:innen den Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Klingt sehr fair, aber was macht es zu einem Erfolgsmodell? Ich habe mich mit Lea und Hussein, Mitgründer:in von der Grüne Faden zum Interview getroffen.

Lea ist 23 Jahre alt und ist im Oktober 2018 über die Hochschulgruppe Enactus zu der Grüne Faden gekommen. Neben ihrer Arbeit bei der Grüne Faden studiert sie an der Universität Tübingen International Economics. Die Idee hinter der Initiative? Entstanden aus der Idee aus alten Plastiksäcken Decken zu häkeln.

 

Hussein an der Nähmaschine

Hussein ist 44 Jahre alt, professioneller Schneider, ursprünglich aus Afghanistan und Mitgründer von der Grüne Faden. Für ihn ist die Nähwerkstatt ein sicherer  Hafen, zudem die Menschen einfach hingehen können, sich unterstützen können und gemeinsam etwas erschaffen können.

 

Hussein, was ist deine Aufgabe bei der Grünen Faden?

Hussein: Die Student:innen aus der Organisation bringen die Stoffe zum Nähen mit und ich stelle die Schnittmuster dazu her. Das Technische der Nähmaschinen, sowie das Nähen zeige ich dann den anderen Teilnehmer:innen.

Für Hussein spielt Geld kaum eine Rolle im Leben. Mit 9 Jahren musste er mit seiner ganzen Familie in den Iran flüchten, da sein Vater von Terroristen verfolgt wurde. Mehr als 20 Jahre hat er im Iran gelebt. Anschließend folgten 3 Jahre in der Türkei und dann kam er nach Deutschland. Durch seine Lebenserfahrung kann er schnell auf Menschen zugehen und Kontakt knüpfen. Dabei ist es ihm am wichtigsten zu sehen, wie er den Menschen am besten helfen kann.

Was war denn euer Grundgedanke hinter der Grüne Faden?

Lea: Ich glaube das waren zwei verschiedene Sachen, die man mit dem Projekt vereinen wollte. Zum einen wollte man am Anfang Plastik recyceln in irgendeiner Form. Daraus ist die Idee mit den Decken, die man aus recycelten Plastik häkeln wollte, entstanden. Und zum anderen war die Idee, mit dem Projekt den geflüchteten und/oder vertriebenen Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, sodass sozial-ökologisches Handeln und Nachhaltigkeit vereint sind. Relativ schnell kamen wir zu dem Entschluss, dass das Häkeln der Decken nicht viel Sinn ergibt und sind dann zu der Idee mit der Nähwerkstatt gekommen. Wir hatten viel learning by doing und haben unsere Produkte dahingehend weiterentwickelt.

Teilnehmer:innen der Nähwerkstatt

Die Produkte sind sehr mit der Geschichte der Menschen verbunden

Die Nähwerkstatt ist nicht nur Produktionsort, sondern auch ein Ort der Begegnung. Viele unterschiedliche Menschen mit den unterschiedlichsten Lebenserfahrungen treffen hier aufeinander, essen zusammen und trinken Kaffee. Dabei können sie sich bei den Herausforderungen des Alltags unter die Arme greifen.

 

Woher bezieht ihr eure Materialien?

Lea: Die Stoffe bekommen wir vor allem durch Spenden. Am Anfang haben wir auch Nähmaschinen gesponsert bekommen. Über den Service Learning Antrag der Universität Tübingen konnten wir Dinge wie Scheren, Nadeln, Reißverschlüsse und weiteres kaufen. Wir waren auch bei zwei Modeunternehmen in der Region, die mehrere Stoffrollen gespendet haben. An Stoffen ist zwar nicht immer alles brauchbar [lacht], aber durch die vielen verschieden Stoffe sind unsere Produkte alles Unikate.

eine individuell angefertigte Kosmetiktasche

 

Wie wird die Arbeit bei der Grüne Faden von den Teilnehmer:innen aufgenommen?

Hussein: Viele Menschen kommen mit Fragen und Schwierigkeiten zur Nähwerkstatt. Vor der Pandemie haben viele Menschen das Unterstützungsangebot von der Grüne Faden angenommen. Leider haben viele Teilnehmer:innen während der Pandemie die Initiative verlassen, da weniger Begegnungen stattfinden konnten. In Afghanistan gibt es sehr viel Schneider:innen. In Deutschland gibt es dafür sehr wenige Schneider:innen. Die Student:innen von der Grüne Faden haben nach passenden Arbeitsstellen gesucht und bei den Bewerbungen geholfen. So konnten schon einige durch die Mitarbeit bei der Grüne Faden Arbeit finden. Die Menschen kommen zu uns und wir schauen, inwieweit wir ihnen helfen können.

Was macht euch zu einem Erfolgsmodell?

Lea: Zum Beispiel haben wir 2019 den Umweltpreis von den Stadtwerken gewonnen. Im Jahr 2021 haben wir die Ford College Community Challenge (Ford C3), gesponsert durch Ford Motor Company Fund, gewonnen, da wir Ressourcen sparen, indem wir alte Stoffe wiederverwerten, unsere Werkstatt ein Ort der Begegnung ist und wir unsere Teilnehmer:innen bei der Integration unterstützen. Die Preisgelder fließen zum Beispiel in den Kauf neuer Nähmaschinen, um so die Arbeit zu professionalisieren, da das langfristige Ziel die Eigenständigkeit losgelöst vom Asylzentrum ist. Außerdem werden die Teilnehmer:innen mit den Preisgeldern dahingehend gefördert, dass ihnen Workshops, wie zum Beispiel die Funktion von Word angeboten werden, sodass sie darüber zusätzliche Qualifikationen für die Arbeitswelt erwerben können. Wenn die Teilnehmer:innen zu uns kommen und mit uns nähen, möchten wir, dass sie nachhaltig davon profitieren. Das heißt, sie bekommen zum Beispiel Nachhilfe, sodass sie, wenn sie eine Prüfung in ihrer Ausbildung haben, gut vorbereitet sind. Dann haben wir auch Sprachkurse mitfinanziert, sodass die Teilnehmer:innen auch trotz der Arbeit ihre Deutschkenntnisse vertiefen können. Ebenfalls unterstützen wir unsere Teilnehmer:innen darin Arbeit zu finden.

Was bedeutet für dich Nachhaltigkeit?

Hussein: Ich habe meiner Frau vor mehr als 10 oder 12 Jahren einen Mantel genäht. Seit 12 Jahren ist der Mantel wie neu. Ich arbeite nicht auf Schnelligkeit, sondern mit viel Zeit und Geduld. Ganz sauber und ohne einen Millimeter Fehler. Auf dem Markt wird versucht für eine breite Masse an Menschen standardisierte Größen, zum Beispiel S und M, zu produzieren, die nicht exakt auf den Körper passen. Die Arbeit als Schneider:in ist ganz anders. Wenn ein Mensch einen Anzug anzieht, dann muss dieser perfekt und ohne Probleme sitzen. Ärmel und Kragen, alles muss ganz schön angepasst sein.

Was möchtest du den an Nachhaltigkeit und Menschenrechten interessierten Menschen mitgeben?

Lea: Für mich ist Vernetzung und gegenseitige Unterstützung sehr wichtig. Jede:r profitiert davon, dass sich jede:r unterstützt. Vor allem wenn ich die Lebenserfahrungen und Erzählungen der Teilnehmer:innen höre, sehe ich aber auch, dass noch vieles gemacht werden muss. Außerdem finde ich es sehr motivierend zu sehen, was andere Leute erschaffen und sich davon inspirieren zu lassen, um so voneinander zu lernen. Und gerade auch wir können noch sehr viel lernen. Wir profitieren sehr von der Hilfe und vom Fachwissen von Hussein. Er hat uns sehr mit dem Nähen und bei den Produkten geholfen.

Wie geht es weiter mit euch?

Lea: Im Winter wollen wir, je nachdem wie sich die Situation mit der Pandemie entwickelt, auf jeden Fall weiternähen. Für den Frühling, wenn es die Lage erlaubt, hatten wir die Idee einen großen Tag der offenen Tür in der Nähwerkstatt zu machen, sodass viele Menschen sich ein Bild von der Nähwerkstatt machen können und unsere Werkstatt vor Ort kennenlernen können und Lust bekommen bei uns mitzumachen. Der Verkauf hat bisher auf den Weihnachtsmärkten und auf dem Regionalmarkt angefangen, aber wir möchten den Verkauf noch mehr vorantreiben. Da ist bereits ein Online-Shop in Planung.

Vielen Dank für das Interview!

Wenn dir dieses Interview gefallen hat und dich die Initiative der Grüne Faden angesprochen hat, kannst du weitere Details auf Instagram dergruenefaden_ oder über den nachfolgenden Link der Grüne Faden finden. Über das Kontaktformular am Ende der Homepage kannst du ebenfalls ein individuell designtes Produkt erwerben, oder bei weiteren Fragen dich direkt an Lea, Hussein und alle weiteren Mitarbeiter:innen wenden. Zudem können die individuell angefertigten Produkte zwischen 16 bis 18 Uhr donnerstags in der Nähwerkstatt im Asylzentrum Tübingen, oder im StyleafFaire, Hafengasse 11, 72070 Tübingen gekauft werden.

Du hast Lust bekommen mitzumachen oder dir ein eigenes Bild von der Arbeit zu machen? Dann schreibe gerne eine E-Mail an dergruenefaden@gmail.com oder schaue in der Nähwerkstatt jeden Donnerstag von 17 bis 19 Uhr im Asylzentrum Tübingen, Neckarhalde 40, 72070 Tübingen, vorbei.