»Alles hat seinen Preis, alles.« – Ein Interview mit Volker Rekittke über Bangladesch und Menschenrechtsverletzungen in der Textilindustrie

Foto: Volker Rekittke

Von Lutz Baltruweit

Unsere Umsonst-Mentalität geht auf Kosten von Menschen, die zu Niedriglöhnen arbeiten. Daher ist es wichtig, hinter die Kulissen zu gucken, um die Auswirkungen des eigenen Konsumverhaltens zu verstehen. Was vor Ort in der Produktion wie auch in Deutschland passiert und passieren muss, um die Probleme nachhaltig in den Griff zu bekommen, habe ich den Schwäbischen Tagblatt-Redakteur Volker Rekittke gefragt. Er beschäftigt sich mit Menschenrechtsverletzungen und postkolonialen Strukturen in globalen Textil-Lieferketten und reiste im September 2019 mit der Friedrich Ebert Stiftung (FES) nach Bangladesch. In der Hauptstadt, Dhaka, ermöglichte die FES Interviews mit Wissenschaftler*innen, bangladeschischen Gewerkschaften und dem Bangladesch Accord sowie Firmenvertreter*innen. Zudem besuchte er, zusammen mit einer Gruppe aus der Zivilgesellschaft und weiteren baden-württembergischen Gewerkschafter*innen, Textilfabriken und das H&M-Trainingscenter.

Volker, was war denn dein erster Eindruck von der Hauptstadt mit 20 Millionen Einwohner*innen?

Dass der Verkehr in Dhaka die Hölle ist. Du kommst ganz schwer von A nach B, zur Rushhour sowieso. Zum Glück dürfen LKWs generell nur nachts fahren – wenn die tagsüber auch noch fahren würden, dann ginge gar nichts mehr. Man weiß auch nicht so genau, wo Dhaka aufhört und wo andere Städte anfangen.

Und wie bist du von A nach B gekommen? In kleinen Tuk-Tuks oder mit dem Taxi?

Foto: Volker Rekittke

Wir hatten einen kleinen Bus, den die FES organisiert hatte. Eine Verantwortliche von der Stiftung hat uns auch die ganze Zeit begleitet. Aber wir haben auch schon mal Sachen alleine unternommen. Dann hast du dich auch mal in eine Rikscha gesetzt, aber das Mittel der Wahl sind Uber-Taxis.

Welche Produktionsstandorte hast du besucht?

Wir haben uns eine große Firma angeguckt, Norban Textile. Da sind wir komplett durchgelaufen und konnten vor Ort mit verschiedenen Leuten reden.

Konntest du dort auch Fotos machen?

Ja, da durfte ich Fotos machen. Das war ein bisschen heikel, weil ich die dem Boss hinterher alle zeigen musste und er dann entschieden hat, welche gelöscht werden müssen. Er sagte, dass er Angst vor Industriespionage habe. Aber ich habe einige machen können. Generell sah es schon sehr sauber und aufgeräumt dort aus. Obwohl es eine Vorzeigefabrik war, in der auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit involviert ist, haben auch die nur den Mindestlohn von 8000 Taka (umgerechnet etwa 85 Euro) gezahlt.

Foto: Volker Rekittke

Hast du gesehen, woran und mit welchen Materialien die Arbeiter*innen gearbeitet haben? Beispielsweise an einem T-Shirt für H&M?

Als wir da waren, wurde bei Norban Textile größtenteils für C&A produziert, teils mit GOTS-zertifizierten Textilien.

Kann man also davon ausgehen, dass die Arbeitsbedingungen dann auch entsprechend dem Standard des strengsten ökologischen Textilsiegels angepasst sind? 

Zumindest als wir da waren, hatten die Arbeiter*innen in dieser Fabrik augenscheinlich gute Bedingungen. Es war belüftet mit riesigen Ventilatoren, es gab überall Tafeln, auf denen Fluchtwege aufgezeichnet waren, Feuerlöscher hingen an der Wand, es gab Aufenthaltsräume. Das sah eigentlich ganz okay aus. Was die Abstände angeht, ist es zwar eng, aber das war ja lange vor dem Ausbruch von Covid-19. Das kann ich nicht beurteilen, wie es da im Moment aussieht und ob andere Fabriken generell die gleichen Bedingungen haben. Was wir aus Bangladesch und Indien gehört haben, ist, dass die dort nun schichtweise arbeiten. Angeblich kommt gerade die Hälfte der Arbeiter*innen in die Fabrik und teilweise wird auch vor dem Eingang Fieber gemessen. Aber das scheint eher bei den Musterfabriken so zu sein. Ob das bei allen so ist, kann man nicht sagen. Was trotzdem ziemlich sicher ist, ist, dass der informelle Sektor diese Standards definitiv nicht erfüllt.

In einem Land mit rund 167 Millionen Einwohner*innen – doppelt so viele wie in Deutschland – und auf der zweifachen Fläche von Bayern, wie groß ist in Bangladesch die informelle Produktion?

Riesig. Es ist mit das engbesiedelste Flächenland der Welt mit einem informellen Sektor von 80%, in dem Menschen sich irgendwie durchschlagen. Es gibt sehr viele Arbeitslose, weil es ein großes Problem ist, eine gute Arbeit zu bekommen.

Und gibt es immer noch viel Kinderarbeit?

Foto: Volker Rekittke

In den großen Fabriken findest du keine Kinderarbeit mehr. Darauf achten die Arbeitgeber*innen sehr, weil das dem Image schadet. Da würden die Brands auch sofort stornieren, wenn das nachgewiesen wird. Das wissen sie mittlerweile. Aber dann gibt’s natürlich im inländischen Markt 167 Millionen Menschen, die auch Kleidung tragen, denn es gibt nicht nur den Exportsektor. Natürlich entsteht dadurch ein Graubereich: Wenn mal schnell was gebraucht wird, was man sich zuliefern lassen müsste, dann bestellt man das von kleinen Familienbetrieben, in denen eben auch Kinderarbeit nicht ausgeschlossen wird. Das ist ziemlich unreguliert und da guckt der Export auch nicht hin.

Trotzdem ist die Textilindustrie nicht die dreckigste und gefährlichste Industrie in Bangladesch, im Gegenteil: Das sind immer noch die begehrtesten Jobs. Es ist immer noch für viele Frauen, die vom Land kommen, ein Hauptgewinn im Lotto. Also es ist beides: Ausbeutung und Chance. Die Frage ist: Wer kassiert den Mehrwert? Wer kassiert den Profit, der in den Textilketten zu holen ist?

Du sprichst gerade die Frauen vom Land an: Wie steht es um ihre Selbstständigkeit?

Die Frauen bekommen ihr Geld selbst auf ihr eigenes Konto überwiesen, damit Männer keinen Zugriff auf das hart erarbeitete Geld haben. Das war für uns ein wichtiges Thema, weil das Patriachat in Bangladesch sehr stark ist. Für die Selbstständigkeit der Frauen versuchen sich nun auch die Fabriken einzusetzen.

Wohnungen sind ein anderes großes Thema. Als im Januar 2019 der Mindestlohn auf 8000 Taka, also umgerechnet 85 Euro, erhöht wurde – pro Monat wohlgemerkt, nicht pro Woche! – stiegen, wie wir überall gehört haben, auch gleich die Mieten. Die Wohnungen gehören nicht selten auch den Unternehmer*innen, die sie an die Arbeiter*innen vermieten. Das heißt, ein Teil dieses Lohns wird gleich über steigende Mieten abgeschöpft. Das ist ein Riesenproblem, dass es praktisch keine staatlichen Wohnungsbauprogramme gibt. Generell gibt es wenig gelenkte Entwicklung, so unser Eindruck.

Ein anderes Problem ist, denke ich mal, auch das Gesundheitswesen, vor allem nochmal stärker in der Coronakrise. Was meinst du?

Ja, Wohnen und Gesundheit sind ein sehr großes Problem. Es gibt in der freien Wirtschaft praktisch keine Krankenversicherung, etwas anders ist es bei Staatsangestellten. Für die meisten Menschen gilt: Wer krank wird, muss Rücklagen haben und alles selbst bezahlen. Das heißt: Schwere Erkrankungen können dein finanzieller Ruin sein oder du stirbst daran.

Wie ist die Lage der Gewerkschaften im Land?

Kritisch. Die Gewerkschaften sind schwach in Bangladesch. Wenn Arbeiter*innen so richtig die Schnauze voll haben, gibt es immer mal wieder Streiks, die teils auch heftig ausgetragen werden. Dann schlägt die Polizei sehr hart zu. Uns wurde berichtet, dass Unternehmer*innen auch Schlägertrupps haben. Gewerkschaftsnahe Stiftungen erzählten zudem, dass Telefongespräche abgehört werden und massiver Druck ausgeübt wird bis hin zu Gefängnisstrafen, Einschüchterungen, Körperverletzung und Mord. Leute sterben, wobei man nicht so genau weiß, wer sie jetzt umgebracht hat; waren das Kriminelle oder waren das angeheuerte Leute; hängt der Staat mit drin? Es gibt viele Berichte, die die Menschenrechtslage in Bangladesch sehr kritisch einstufen. Bei Berichten von Reporter ohne Grenzen oder Amnesty International werden viele Klagen über staatliche Willkür laut und, dass elementare Menschen- und Gewerkschaftsrechte dort nicht beachtet werden. Die Demokratie ist leider noch entwicklungsfähig in Bangladesch. Gewerkschaften haben es echt nicht leicht und es gibt immer noch viele gesetzliche Hürden, obwohl die EU da in ihren jährlichen Berichten Druck macht.

Was unternimmt die EU denn?

Die versucht, im Dialog mit der bangladeschischen Regierung zu sein, und sagt: »Hey, da müsst ihr nachbessern.« So ist es beispielsweise nur Gewerkschaften auf Betriebsebene erlaubt, Betriebstarifverträge abzuschließen. Das bedeutet: Branchentarifverträge wie bei uns gibt’s da nicht. Um überhaupt eine Gewerkschaft in einer Textilfirma gründen zu können, musst du erstmal 20% aller Mitarbeiter*innen als Mitglieder in deiner Gewerkschaft haben.

Und das in einem Klima, in dem so ein Job ohnehin schon ein Hauptgewinn ist.

Und in dem Druck auf Gewerkschaftler*innen ausgeübt wird. Das ist nicht einfach. Deshalb gibt es eigentlich nur sehr wenige Betriebsgewerkschaften. Also wenn das ein paar 100 sind – wir haben die Zahl von 500 gehört – in einem Land, wo es allein 4500 Textilexportfirmen gibt, erscheint mir das nicht allzu viel zu sein. Doch selbst, wenn es 500 oder 600 sind, stellt sich die Frage, ob auch sogenannte gelbe Gewerkschaften darunterfallen. Das sind arbeitgebernahe Gewerkschaften, die von den Arbeitgeber*innen selbst aufgebaut oder unterstützt werden; das sind dann natürlich keine klassischen Gewerkschaften im Sinne des Namens, also keine Beschäftigtenvertretungen. Das ist eine schwierige Lage, aber ohne Gewerkschaften, ohne diese Tarifauseinandersetzung und ohne laute Straßenproteste bewegt sich nicht viel in Richtung Veränderung.

Für eine sichere und nachhaltige Kleiderherstellungsindustrie wurde ja auch der Bangladesch Accord ins Leben gerufen. Dieses gesetzlich bindende Abkommen über Gebäudesicherheit und Brandschutz wird unterstützt von über 200 Brands und Modefirmen und vereint IndustriALL, UNI Global und bangladeschische Gewerkschaften. Ich gehe davon aus, dass das Bündnis einen großen Hebel hat, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Gewerkschaften, deren Stimme brutal bekämpft wird, können hierüber zu Wort kommen. Wie ist die Lage des Bangladesch Accord?

Es ist viel passiert. Das Bündnis hat ein Team von 200 Leuten aufgebaut. Jedes Jahr bekommen sie 10 Millionen Dollar von den Brands, um sich die Fabriken anzugucken und die Mitarbeiter*innen zu schulen – das war ein Quantensprung. Das alles war rechtlich bindend. Doch jetzt steht es auf der Kippe, weil sich der Textilarbeitgeberverband BGMEA mit an den Tisch setzen will, die Textilunternehmer*innen jetzt also mitreden wollen. Im Accord hatte die Clean Clothes Campaign (CCC) bislang Beobachterstatus, doch im neuen Zusammenschluss sind sie raus.

Und warum?

Naja, die waren erstens ein bisschen zu kritisch; haben einen Finger in die Wunde gelegt. Und zweitens läuft das auch unter einem neokolonialen Diskurs.

Ist damit aber nicht eine zu große Einflussnahme des Arbeitgeberverbands zu befürchten?

Gut möglich. Aber na klar, Bangladesch sagt: »Uns wird von den Brands und den internationalen NGOs das Abkommen aufgezwungen.« Da ist natürlich was dran. Es sollte eigentlich so sein, dass jedes Land die Missstände selbst beseitigen soll – aber sie haben es halt bis jetzt nicht selbst hingekriegt, sagen uns auch Gewerkschaftler*innen. Sie haben mittlerweile eine staatliche Inspektionsbehörde aufgebaut und gestärkt. Man wird sehen, ob sie es gut allein hinkriegen. Es ist zudem kein gutes Omen, dass es eine enge Verflechtung zwischen den Textilunternehmer*innen und der Regierung gibt. Aber entscheidend ist letztendlich auch, dass man die Brands und die Gewerkschaften im Boot hat.

Meinst du, es wird den öko-sozialen Wandel geben, oder vermutest du, dass sich die Probleme nach Äthiopien verlagern, wenn sich die Situation in Bangladesch verbessert?

Genau, das ist ein riesiges Problem. Äthiopien wirbt offensiv mit dem Aufbau einer modernen, staatlich geförderten Textilinfrastruktur mit gigantischen modernen Fabriken. Es gibt dort also keinen Wildwuchs von Unternehmen wie in Bangladesch über 20 Jahre oder noch länger. Sie werben auch offiziell mit den niedrigsten Textileinstiegslöhnen der Welt – umgerechnet 26 Dollar. Das ist nicht mal ein Drittel von dem, was die Leute in Bangladesch verdienen, was ja schon wenig genug ist. Und wir haben natürlich in Äthiopien noch andere Probleme: Sie haben keinen Zugang zum Meer, was teure Transferkosten durch Eritrea oder andere Staaten zur Folge hat. Das ist in Bangladesch anders, denn einen Meerzugang brauchst du bei der Textilproduktion. Dafür liegen sie in Äthiopien näher an Europa – wenn sie ihr Transportproblem gelöst bekommen, werden sie also ein ernsthafter Rivale für Bangladesch. Denn alles hat seinen Preis, alles. Wir leben im Kapitalismus und was sich nicht rechnet, verschwindet vom Markt. Und wenn es sich besonders gut rechnet, dann nehmen viele Unternehmen so lange alles an Profiten mit, bis der Bereich reguliert wird. Und dann muss man sich neue Geschäftsmodelle suchen.

Foto: Volker Rekittke

Das bedeutet, die Probleme bleiben bestehen und wechseln nur die Location?

Ja, ich glaube, wir kriegen das Problem nur über eine Zähmung des globalen Kapitalismus und über die Einführung neuer globaler Spielregeln hin. Das heißt: über eine Verrechtlichung der globalen Lieferketten. In Deutschland und Europa gibt es Diskussionen und Initiativen für ein Lieferkettengesetz, was die schlimmsten Auswüchse der Fast Fashion-Industrie, aber auch anderer Industrien – Automobil, Handy-Rohstoffe wie Coltan aus dem Kongo etc. – eindämmen oder mäßigen soll. Vor allem sind dabei zu verhindern: Menschenrechtsverletzungen, Kinderarbeit, Zwangs- und Sklavenarbeit. In diesen Industriezweigen weiß man auch nicht so genau, wie und was alles für welche internationalen Konzerne produziert wird, und will das vielleicht auch gar nicht so genau wissen. Aber auch Gewerkschaftsfreiheit muss zwingend vorgeschrieben sein – all das und noch einiges mehr darf nicht unterdrückt werden. Das sind die sogenannten ILO-Kernkonventionen; Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht ist die vierte.

Bekommen wir das mit einem Lieferkettengesetz in den Griff?

Ja, mit Regulation, aber natürlich auch mit Bewusstsein bei uns als Konsumenten*innen und Bürger*innen. Beides ist wichtig, das eine geht nicht ohne das andere. Mit einem Lieferkettengesetz, was solche menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten verbindlich vorschreibt, wäre es einfacher, Firmen in Deutschland vor Gericht zu bringen. Es würde deutsche Unternehmen in die Pflicht nehmen, Transparenz und Verantwortung für ihre gesamte Lieferkette zu garantieren. Und wenn es Verletzungen gibt, dann müssen die deutschen Unternehmen, die das wussten, nichts dagegen getan haben auch dafür geradestehen – entweder durch staatliche Strafen oder durch Gerichtsverfahren. Und wir brauchen einen Beschwerdemechanismus, bei dem Unternehmen und Gewerkschaftler*innen die Klagen von Arbeiter*innen prüfen und dafür sorgen, dass Abhilfe geschaffen wird. Also, dass mal die Arbeiter*innen die andere Seite des billigen T-Shirts erzählen können; wo man von Bangladesch aus über ein Internetportal grobe Verstöße gegen ILO-Kernkonventionen melden kann, wenn wieder Menschen aufgrund ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft verprügelt wurden oder, was noch viel häufiger vorkommt, entlassen oder unter Druck gesetzt wurden. Es gibt z.B. die Fair Wear Foundation, ein sehr ambitioniertes Projekt, das so ein Meldesystem aufgebaut hat. Und das funktioniert offensichtlich ganz gut.

Läuft das über die Gewerkschaften oder ginge es auch ohne?

Nein, ohne Gewerkschaften wird nichts funktionieren. Mittlerweile bin ich davon fest überzeugt. Die Gewerkschaften in Bangladesch und in Deutschland müssen entlang der Lieferketten viel, viel stärker zusammenarbeiten. Wir müssen internationaler denken und natürlich wegkommen von solchen Fast Fashion-Modellen. Die sind nicht nachhaltig und brechen in wenigen Jahren zusammen. Wir können das nicht mehr lange halten. Deshalb plädiere ich umso mehr dafür, sich genauer anzugucken, was in den Lieferketten passiert und wer davon profitiert. Und dafür, dass viel mehr transnationale Konzepte entwickelt werden, weil das Kapital ja schon lange transnational organisiert ist: Daten werden um den Globus gejagt, Ware in gigantischen Mengen verschickt und verkauft, Arbeitskräfte wandern – und die Gewerkschaften hinken hinterher.

Wir brauchen international neue Spielregeln. Zum einen, was die bestehenden Machtasymmetrien zwischen Nord und Süd angeht. Die gibt es einfach. Du kannst nicht sagen: »Wir leben in einer Welt und alles ist gleich.« Bangladesch wird bis 2050, wenn das mit dem Klimawandel so weitergeht, bis zu 20% seiner Landesfläche verlieren. Die befürchten 20-30 Millionen Binnenflüchtlinge durch den Anstieg des Meeresspiegels. Bangladesch ist eines der ersten Länder, das durch die Klimakatastrophe sprichwörtlich absaufen wird. Und die Klimakatastrophe wird überwiegend von uns im Norden gemacht. Der Pro-Kopf-Ausstoß von CO2 ist ein Witz gegen unseren – ich glaube, unserer ist 18 Mal so hoch. Und das heißt: Wir sind die Verantwortlichen für das, was da unten passiert. Jetzt nicht nur klimamäßig, sondern auch wirtschaftlich. Die Welt ist verflochten und deswegen muss man hier, am besten in Europa, was nach China der größte Wirtschaftsraum der Welt ist, anfangen, denn wir könnten das auf einen Schlag tun.

Glaubst du die Konzerne und wir als Konsument*innen lernen aus Krisen?

Es gibt Untersuchungen darüber, dass die Einkaufspreise der großen Modeunternehmen in Bangladesch – nach dem Gebäudeeinsturz der Rana Plaza 2013 mit über 1.100 Toten – bis 2017 um 13% gesunken sind. Das heißt: Das Zeug wird immer billiger! Skandal hin oder her. Und 50% dessen, was in unseren Kleiderschränken hängt, gucken wir gar nicht mehr an. Das weiß jede*r von sich. Wenn man ehrlich ist, wissen wir es alle: Das Zeug ist zu billig. 2,99 Euro für ein T-Shirt von New Yorker – das geht eigentlich nicht. Alles hat seinen Preis, alles. Dazu hat Kai Nebel, ein Textilforscher an der Fachhochschule Reutlingen, gesagt: Warum nicht die Hälfte verkaufen zum doppelten Preis in höherer Qualität – und dafür sorgen, dass das Geld vermehrt auch bei den Arbeiter*innen ankommt.

Es ist der H&M-Schrott oder der Primark-Schrott oder der Zara-Schrott, für den moderne Sklav*innen arbeiten: billigst. Und das zu Stundenlöhnen, für die du keinen kleinen Finger krumm machen würdest, auch nicht als Student*in. Das ist für mich ein System mit Sub-Unternehmer*innen, das auf der Ausbeutung von Menschen aufbaut.

Foto: Volker Rekittke

Bleibt denn letztendlich das System das gleiche und nur Nachfrage und Standard werden hin zur halben Menge und zum doppelten Preis für höhere Qualität gehen?

Nein, ich glaube, wenn die Spielregeln anders werden, dann verändert sich innerhalb des Systems schon einiges. Die Staaten werden wichtiger, besser noch die supranationalen Institutionen, die effektive Sanktionen durchsetzen können; die EU noch besser auf UN-Ebene. Es gibt hier auch die Initiative Binding Treaty Business & Human Rights auf UN-Ebene. Eine meiner Interviewpartner*innen hat mir gesagt: »Nimm, was du kriegen kannst, arbeite auf allen Ebenen, mach Campaigning, setz die großen Konzerne unter Druck, indem du ihnen immer wieder sagst: ›Was ihr da macht ist nicht menschenrechtskonform, da klebt Blut dran oder Schweiß von Arbeiter*innen, die nicht wissen, wie sie ihre Miete zahlen sollen.‹« Übrigens auch in Südost-Europa – in Bulgarien und Rumänien, wo Hugo Boss und alle anderen produzieren lassen und zum Teil Löhne gezahlt werden, die unter denen in Bangladesch liegen. Warum nicht einfach mal in der EU Prozesse führen für höhere Mindestlöhne in Bulgarien? Dieses Immer-billiger, der Race-to-the-bottom-Wettlauf muss beendet werden.

Glaubst du, dass die Digitalisierung in der Textilindustrie etwas Gutes haben kann? 

Es ist die Frage, wo man hinwill. Vielleicht beschleunigt Corona den digitalen Prozess. China ist ja auch mit der Textilindustrie gestartet und hat sich längst in viele andere Richtungen diversifiziert: Elektronik, Automobil, Flugzeuge, Infrastruktur etc. Und da muss Bangladesch auch hinkommen, weil der Textilsektor traditionell der Entry Point, der Eintrittspunkt der Industrialisierung, ist. Und du musst dann anfangen, innerhalb der Textilproduktion auch komplexere Kleidungsstücke zu produzieren, aber vielleicht auch technische Textilien. Es gibt jetzt schon Diskussionen, dass das, was du im Moment noch mit der Hand machen musst – das Konfektionieren, also das Zusammennähen von Kleidungsstücken – bald auch Roboter machen. Das dauert noch ein paar Jahre, aber es wird kommen. Damit kommt dann der Digitalisierungsschub auch in der Textilindustrie, was viele, viele Arbeitsplätze kosten würde. Das heißt, die müssen sich ohnehin Gedanken machen, wie es weitergeht, und es kann gut sein, dass Corona, was bei uns ja einen Digitalisierungsschub ausgelöst hat, auch in Bangladesch zum Nachdenken führen wird.

Für komplexere Produktion wird auch mehr Know-how und eine bessere Ausbildung benötigt. Was würde das für Bangladesch bedeuten? 

Genau, NGOs und Gewerkschaften sagen: »Ihr braucht dazu gut ausgebildete Arbeiter*innen. Es reicht nicht, diese ganzen ungelernten Männer und Frauen vom Land einfach in die Textilfabrik reinzustecken, wie es die letzten 20 Jahre gelaufen ist – und wenn die halt nicht mehr können, dann nimmt man halt neue, weil es gibt ja genug.« Mit mehr Know-how und Ausbildung werden die Menschen dann auch mehr Geld verlangen. Darüber hinaus auch bessere Arbeitsbedingungen und sobald die gut bezahlten Arbeiter*innen gefragt sind, was sie in Deutschland schon längst sind, entsteht Konkurrenz.

Das sind die Entwicklungsschritte, die da in Bangladesch noch anstehen. Von daher kann es sehr gut sein, dass Corona das beschleunigt, und, wie gesagt, hoffentlich dann in dem Zusammenhang auch der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme vorangeht. Denn diese gut entlohnten Arbeiter*innen haben natürlich nicht nur ein Interesse daran, mehr Geld zu verdienen, sondern auch im Fall von Krankheit sicher zu sein oder ihren Kindern eine korrekte Schulbildung zu ermöglichen. Damit die eben dann nochmal bessere Perspektiven haben. Dafür leben ja viele Menschen bei uns und überall auf der Welt; dafür, dass es den eigenen Kindern mal zumindest nicht schlechter geht als einem selbst.

Volker, vielen lieben Dank, dass du deine Eindrücke mit mir geteilt hast.

Im Nachhinein meinte Volker Rekittke noch zu mir, dass wir alle globalen Probleme als unsere eigenen angehen sollten, weil die ausgelöste Wanderungsbewegung und die gigantischen Klimafolgen ohnehin nicht mehr an Grenzen aufgehalten werden können. Zudem müssen wir uns Gedanken machen, wie man diese globale Konkurrenz des Weiterwanderns von Unternehmen in andere Länder abfedert. Das ist möglich, indem die Standards höher gesetzt werden und vor allem den Unternehmen in Deutschland vorgeschrieben wird, dass bestimmte Mindeststandards für ihre komplette Lieferkette eingehalten werden müssen. Und wenn sie das nicht tun, dann wird es teuer – oder es gibt eine schlechte Publicity. Oder beides.